Page 43 - Rudolf Giesselmann - Landerziehungsheim Walkemühle
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waren wir der Meinung: ,Ja, es gibt einen freien gemein intensiven gemeinsamen Arbeit ge-
Willen. Alle fünf Teilnehmer sind davon fest kommen waren. Da alle drei recht selbstän-
überzeugt.’ Aber schon am Nachmittag hör- dige Menschen waren, hätte es nahegelegen,
ten wir es knistern im Gebälk. (Nachmittags dass jeder sich berufen gefühlt hätte, sein ei-
arbeitete man gewöhnlich einzeln oder zu genes System auszuarbeiten und vorzulegen.
zweit in Form eines Protokolls die Vormit- Ich glaube, dass hier ganz besonders die
tagsüberlegungen noch einmal durch; viel- Schaffung einer geistigen Gemeinschaft ge-
leicht gelang es dabei auch, einen fruchtbaren glückt war.
Ansatz für die Fortführung der Arbeit am
nächsten Tag vorzubereiten.) Die Fähigkeit zu solcher gemeinsamen Arbeit,
sich in sie einzuordnen, ist wohl das wichtigste
Und dann kam am nächsten Morgen einer der Ergebnis der sokratische Arbeit. Daneben steht
Teilnehmer mit neuen Argumenten und warf der Gewinn eines starken Selbstvertrauens in
alles bisherige über den Haufen. Es war in die eigene Vernunft: Man merkt, dass man bei
diesem Fall eine nachdenkliche Frau. Ihre gut hinreichender Vertiefung und Ehrlichkeit im
begründeten Gedankengänge weckten bei Denken, sei es allein, sei es gemeinsam, in
dem einen oder andern Mitschüler ein Echo. Er seinem Innern einen ganz erstaunlichen Vorrat
unterstützte sie, und der Kampf begann von an Erkenntnissen entdecken kann.” (48)
neuem mit einer Hingabe und Intensität, dass
wir selbst am Schluss der Unterrichtsstunden
nicht davon loskamen und in jeder freien Mi- Eine Schülerin schreibt:
nute weiter an unserem Problem bohrten.
“Nelson erschien nicht oft in der ,Walkemühle’.
Ich habe es noch im Ohr, wenn plötzlich Hans, Doch wenn er da war, wirkte er als Lehrer und
der Jurist aus München, unserer Edith, einer Erzieher. So erinnere ich mich eines zehn Tage
ehemaligen Verkäuferin aus einer englischen währenden Kurses über die Schrift von Friedrich
Kleinstadt, zurief: ,Du, Edith, jetzt sehe ich, wo Engels: ,Die Entwicklung des Sozialismus von
der Fehler in Deinem Ansatz liegt. Pass auf. Du der Utopie zur Wissenschaft’. Die Aufdeckung
denkst ..., aber das stimmt nicht, es ist so....’ der metaphysischen Voraussetzungen der jede
Lange haben wir gerade um diese Frage ge- Metaphysik leugnenden Engelsschen Theorie
rungen. und die Klarstellung logischer Sprünge gehörte
zum besonders Fesselnden dieser Arbeit. Für
Eines Abends, als Edith wieder einmal mit uns Nelson war es zweifellos eine große Gedulds-
allen einig war, musste sie sich feierlich ver- probe, mit uns zu arbeiten, um so mehr, als
pflichten, nun fest zu bleiben und uns nicht gerade in diesem Kursus der Versuch gemacht
durch neue Argumente vom Fortgang unserer wurde, die Schüler auch als Lehrer wirken zu
Arbeit abzuhalten. Wir waren fest davon ü- lassen.
berzeugt, bei der Weiterarbeit einen Weg zu
finden, der auch ihre, vielleicht tief im Innern Geduld während solcher Übungen war über-
weiter bohrenden Zweifel beheben würde.” haupt eine der bemerkenswerten Eigenschaf-
(46) ten Nelsons. Er konnte zehn bis fünfzehn Mi-
nuten und noch länger die Teilnehmer in
Schweigen verharren lassen, ohne von sich aus
Ein weiteres Beispiel der gleichen Schülerin: den Weg zu zeigen, der aus der Sackgasse
herausführte. Er wartete auf die Initiative der
“Drei Mitglieder unserer Gruppe nahmen sich Teilnehmer, und erst wenn aus diesem Kreis der
eine eigene Arbeit vor: die Ausarbeitung eines Versuch zur Weiterführung der Unterhaltung
vollständigen Leitfadens für eine Analyse der unternommen wurde, leitete er sie weiter.
politischen Lage. Sie waren ganz erfüllt davon
und trugen uns die Ergebnisse ihrer Untersu- Eine der schönsten sokratischen Übungen er-
chungen vor. Ich glaube, sie waren brauchbar. lebte ich bei Nelson über das Thema
Aber selbst wenn sie sich nicht so vollkommen des ,Schönen Seins’ oder des ,Ideals der
erwiesen, wie die drei sie beurteilten - was mich schönen Seele’ bei Schiller. An mehreren
so beeindruckte, war die Tatsache, dass hier Nachmittagen wurde in diesem Kursus die
einige ihrem Wesen und ihrem Beruf nach doch Entwicklung der Ethik von Kant zu Schiller und
sehr verschiedenartige Menschen (ein Lehrer, damit die begriffliche Unterscheidung zwi-
ein Jurist und ein Ingenieur) zu einer ganz un- schen Pflicht und Ideal erörtert. Es war für mich
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